Die Mauer fällt
Hier ist ein Auszug aus Der Stolperstein der beschreibt, wie der Polizeibeamte Karl Schmidt reagierte, als er und die Journalistin Sarah Stern im Fernsehen in Berkeley, Kalifornien, zusehen, wie die Berliner Mauer eingerissen wird:
Eines abends, als wir vor dem Abendessen bei Brennans einen Cocktail tranken, wurden im Fernsehen plötzlich Bilder von der Berliner Mauer gezeigt.
„Mein Gott,“ rief Karl und zeigte auf den Bildschirm. Wir sahen eine Menge Menschen, die auf der Mauer standen und mit Vorschlaghämmern und Meißeln auf die Betonwand einschlugen. Man konnte bereits einzelne Löcher in der Mauer erkennen. Der Kamera-Winkel veränderte sich und wir sahen Männer mit Drahtseilen, die ganze Teilstücke der Mauer umlegten. Kein einziger Soldat der Volksarmee war zu sehen. Männer, Frauen und Kinder tanzten auf der Mauer und in den Straßen.
„Die reißen die Mauer ein,“ sagte Karl ungläubig. Ich blickte von ihm auf den Fernseher und zurück. Er sah fröhlich aus und von Zeit zu Zeit reckte er seine Faust triumphierend in die Höhe. Trotzdem blickte er ab und zu auch nachdenklich drein, so als könne er es nicht fassen.
Nach einer Weile betrachtete er den Tisch und sagte traurig: “Als ich noch klein war hörte ich immer wieder, wie meine Großeltern über die Wiedervereinigung redeten. Sie waren überzeugt davon, dass sie eines Tages kommen würde. Sie wussten aber auch, dass sie selbst dies nicht mehr erleben würden.“
Jedes Mal, wenn die Sprache auf dieses Thema kam, versicherte Karl ihnen mit kindlich-naiver Überzeugung, dass sie ihr Land ganz sicher wiedervereinigt sehen würden. Doch seine Großeltern sollten recht behalten. Später, als Teenager und junger Erwachsener, wiederholte er diese Meinung nicht mehr. Stattdessen stimmte er der Auffassung zu, dass ein vereinigtes Deutschland zu mächtig und zu gefährlich sein würde und dass es wohl das Beste sei, die beiden Teile getrennt zu lassen.
„Als ich in die Vereinigten Staaten umzog, vertrat ich diese Meinung, um die Leute zu beruhigen. Ich wollte, dass sie verstehen, dass ich kein Kriegstreiber oder Nazi bin.“
Während wir zusahen, wie die Deutschen vor Freude auf der Mauer tanzten, sagte Karl: „Ich hatte wirklich geglaubt, was ich meinen Großelten sagte. Deutschland muss ein großes vereintes Land werden. Es ist auf die Dauer völlig unmöglich, 17 Millionen Ostdeutsche eingesperrt zu halten, ihnen das freie Wahlrecht und die Reisefreiheit vorzuenthalten.“
In den folgenden Tagen sahen wir noch viele derartige Szenen, wie die Leute an der Mauer herumhackten, wie sie über die Mauer kletterten und auf ihr herumturnten. Und in den folgenden Wochen konnte man spüren und sehen, wie die beiden Teile Deutschlands zur Freude aller in Richtung Wiedervereinigung wie mit einem Katapult aufeinander zu geschleudert wurden.
„Wenn wir dort sind, wird es nur noch ein einziges Deutschland geben. Mein Gott, das Haus meines Großvaters wird tatsächlich etwas wert sein! Ich glaube, wir sollten es uns ansehen. Ich könnte mir vorstellen, dass man da viele alte Sachen ganz billig kaufen kann. Auf diese Weise kommen die Ostdeutschen an Westgeld. Ich mochte den alten Kram schon immer.“
Und plötzlich begann Karl über seine ostdeutschen Verwandten zu sprechen, die er kaum getroffen hatte. Zwei Mal war er im Osten gewesen, um seine Großeltern zu besuchen. Die Briefe, die nun von seinen Elten kamen, enthielten Nachrichten vom östlichen Zweig der Familie, der schnell die Gelegenheit schnell ergriffen hatte, die offene Grenze ungehindert zu überqueren.
„Greta hat uns Schnitzel von ihrem Bauernhof mitgebracht,“ schrieb Karls Mutter und berichtete, wie die Verwandten nun frei in den Westen reisen konnten. Als sie die Nahrungsmängel und die unzureichenden Lebensbedingungen im Osten schilderte, meinte Ingrid: „Wir müssen ihnen Geld geben.“ Und sie fügte hinzu: „Da wir den Zweiten Weltkrieg angefangen haben, ist es nur recht und billig, dass wir nun bezahlen.“
Aber während Karl sich über den Fall der Mauer freute, war ich mir bewusst, dass die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in den USA anders empfand. Viele Leute fürchteten, dass ein vereinigtes Deutschland wieder ein nationalistisches Deutschland werden könnte. Man sah Karikaturen, auf denen die Wiedervereinigung als Weg zur Wiederherstellung des Reiches dargestellt wurde.
Auszug von Der Stolperstein Kapitel 9