Eine Synagoge ohne Juden
Die sechste Station: Altenkunstadt
Joseph Motschmann wohnte sein ganzes Leben in Altenkustadt, ein Marktflecken von 3.000 Einwohnern. Als er noch ein kleiner Junge war—er wurde 1952 geboren—erzälten ihm seine Eltern, dass sie einmal jüdische Nachbarn hatten. Er bemerkte dann, dass niemand über diese Zeit redete. Er besorgte sich ein Tonbandgerät und ging von Haustür zu Haustür und begann die Bürger von Altenkunstadt über die Kriegsjahre zu interviewen.
Wenige Leute wollten mit ihm reden, einige dann aber doch. Er wollte spezifisch wissen, was am 9. November 1938 geschah. Das Datum wurde für lange Zeit „Kristallnacht“ genannt, heißt aber nun „November Progrom“. Einige der Bürger erzälten ihm, wie die Synagoge von Altenkunstadt zerstört wurde. Sie nannten auch die Namen der Täter.
Die Synagoge wird restauriert
Josef, der vor einem Jahr starb, reiste mit einer Jugendgruppe nach Israel. Als er später den Lehrerberuf aufnahm, beschloß er etwas von der jüdischen Gemeinde wiederherzustellen. Er gründete einen Verein und sammelte Geld. Schließlich hatte er 2 Millionen zusammen. Auf den Grundmauern der niedergebrannten Synagoge restaurierte der Verein das Gebetshaus. Dort haben wir unsere Lesung veranstaltet.
Das Gebäude wurde vor 25 Jahren neu geweiht. „die Juden sind fort, aber die Synagoge ist hier,“ sagte Fritzi Fischer, Josefs Witwe.
.Bei der Weihung waren Juden, die die Nazi Konzentrationslager überlebt hatten, aus der weiteren Umgebung angereist. Einige waren sogar aus Israel gekommen. Es waren auch Familienangehörige von Juden dabei, die ermordet waren. Angestellte des Straßenverkehrsamt hatten in einem alten Aktenschrank die 1938 eingezogenen Führerscheine der Juden wiederentdeckt. Auch sie kamen. Die Führerscheine wurden dann an ein Gymnasium in der Nähe gegeben, wo die Schüler anhand der Ausweise die einzelnen Leben rekonstruierten. Sie machten damit dann eine öffentliche Ausstellung.
Man muß darüber reden
Inge Goebel, eine pensionierte Lehrerin, hat an der Synagoge und dem angeschlossenen Museum schon seit Jahren ehrendamtlich gearbeitet. Sie sagte:“Die Leute hier hatten mit den Juden zusammen gewohnt. Sie wußten was geschehen ist, wollten aber nicht darüber reden. Man muß aber darüber reden.“ Einige bemerkenwerte Gegenstände im Museum waren Gebete und andere wertvolle Schriften, die die Juden in den Dachbalken ihrer Häuser versteckten. Sie wurden erst später entdeckt.
Noch ein paar Worte über Josef Motschmann: Er war ein katholischer Theologe mit einer Passion für Geschichte. Zu gedem Jahrestag organisierte er einen Marsch von der Stelle wo die Juden sich sammeln mußten bis zum Bahnhof. Wärend des Marsches bestand er darauf, die Namen der Opfer laut zu verlesen. Er hat auch den jüdischen Friedhof restauriert und gepflegt. Als Altenkunstadt den 1200. Geburtstag feierte hat man ihn gebeten, die Geschichte der Juden zu beschreiben. Er hat erwiedert, dass er das nur tun würde, wenn er die Nazis, die die Synagoge geschändet hatten, mit Namen nennen kann. Nach langem hin- und her bekam er die Erlaubnis. Er schrieb die jüdische Geschichte und nannte öffentlich die Täter bei Namen.
Kurz vor seinem frühen Tod ist ihm noch das Bundes Verdienstkreuz verliehen worden.
Altenkunstadt hat noch mehr Geschichten, die wir für später aufheben.
Julie Freestone und Rudi Raab waren in Deutschland auf Buchtour mit ihrem Roman Der Stolperstein. Das Buch ist auch auf englisch unter dem Titel Stumbling Stone erhältlich.