Der 8. Mai: Die Geschichte einer Mutter
Wenn Amerikaner an den 2. Weltkrieg denken, dann stellen sie sich ein riesiges militärisches Unternehmen vor. Wenn Deutsche an den 2. Weltkrieg denken, dann stellen sie sich zumeist an zerbombte Städte, und heimatlose Flüchtlinge, die sich retten wollen. Hier ist eine Szene aus Der Stolperstein in der “Ingrid” ihre Geschichte erzählt.
„Wir Frauen hatten es schwer im Krieg. Als Dresden
zerbombt war, mussten wir fliehen. Die Russen waren auf dem
Vormarsch und ich bin zehn Tage zu Fuß im Kreis gelaufen,
um ihnen nicht in die Hände zu fallen.“
Der erste Teil von Ingrids Flucht von Dresden in Richtung
Pirna war wie ein schlechter Witz: Als sie dort ankam, war der
Ivan schon da. Also marschierte sie mit ihren beiden kleinen
Töchtern weiter nach Nonnewitz, wo ihre Eltern wohnten.
Sie war im neunten Monat schwanger mit Karl und seine
beiden Schwestern trugen noch Windeln.
„Eines Tages ging ich die Straße entlang. Ich weiß nicht
mehr, wie viele Tage ich schon unterwegs war. Ich schob eine
meiner Töchter im Kinderwagen. Sie hatte Kinderlähmung
und konnte nicht laufen. Die Kleinere trug ich auf dem Arm.
Sie hatte Durchfall und du kannst dir vorstellen, wie mein
Mantel aussah. Und Büblein war kurz davor, auf die Welt zu
kommen.“ Ingrid war anzuhören, wie schlimm diese Zeit für
sie gewesen war.
„Plötzlich trat ein russischer Soldat aus dem Wald auf die
Straße. Er sah mich an und hob langsam sein Gewehr. Er zielte auf meinen Kopf. Ich dachte, jetzt ist alles aus und dass er mich
und die Kinder erschießen würde. Aus irgend einem Grunde
fing da die Kleine an zu weinen.
Vielleicht hörte der Soldat das Baby weinen. Jedenfalls
senkte er das Gewehr und verschwand wieder im Wald.“
Ingrid hörte auf zu reden und sah in die Ferne. Dann wandte
sie sich wieder an mich und sagte: „Ja, diese Zeiten waren
schwer, besonders für uns Frauen.“