Wäre es möglich gewesen, Gerhard zu retten?
- Station: München
Als wir die amerikanische Buchtour für die englische Version unseres Buches planten, entschlossen wir uns so wenig wie möglich über den dritten Teil des Buches—der Geschichte Gerhards—zu reden. Wir hatten uns statt dessen darauf konzentriert, die kaum glaubliche Liebesgeschichte zu schildern. Wir hatten versucht, das Geheimnis Gerhards, der sich den Nazis wiedersetzt hatte, nicht zu verraten; denn wer würde sonst das Buch kaufen?
Bei der Planung unserer deutschen Buchtour, dachten wir dann aber, dass das Publikum nun doch die Geschichte Gerhards hören sollte. Und wir erfuhren, dass das genau war was sie wollten. Die Geschichte von Sarah, der jüdischen Journalistin und Karl, dem Sohn eines hochgestellten Nazis. Gehrhards Geschichte war für sie aber kontrovers. Eine Zeitung in Steinbach berichtete über unsere Veranstaltung in Steinbach, dass das Leben Gerhards eine Tragödie war, aber mit einem Sinn für Humor berichtet wurde. Wir haben auch gemerkt, als wir die Geschichte Gerhards erzählten, haben die Leute noch mehr Bücher verlangt.
Die Erinnerung wachhalten
Unsere Veranstaltung in München fand im NS-Dokumentationszentrum statt. Es ist ein neues Gebäude zumeist unter der Erde und ist inmitten der von Albert Speer, Hitlers Architekten, entworfenen Prachtbauten in der „Geburtsstätte der Bewegung“. Obwohl das Dokumentationszentrum mit Steuermittel gute Öffentlichkeitsarbeit gemacht hatte, waren weniger Leute im Publikum als wir gehofft hatten. Der Buchladen den Zentrums hatte eine gute Zahl von Büchern verkauft und hier war das erste mal, dass wir jemanden trafen, der unser Buch bereits gelesen hatte.
In der angeschlossenen Frage- und Antwort-Periode dominierte er die Diskussion. Im Vortrag selbst spricht Rudi darüber, dass Gerhard ermordet wurde, nachdem er lange im KZ gewesen war und dass er Bruder eines hochgestellten Nazis war und dann selbst zum Opfer dieser Nazis wurde.
Warum wurde Gerhard nicht gerettet?
Der Zuhörer war ärgerlich. Er wollte wissen, warum der Alte nichts getan hatte, seinen Bruder zu retten. Da er ja ein hochgestellter Nazi war, hätte er doch in der Lage sein sollen, seinen Bruder aus dem KZ und in die Schweiz zu bringen. Vielleicht hätte er ihn auch in ein normales Gefängnis überweisen können, wo er nicht gefoltert und ermordet werden würde. Da das offensichtlich nicht geschehen war, wollte er wissen, warum.
An mehreren Orten sind wir gefragt worden, was „der Alte“, Rudis Vater über Gerhard gesagt hatte. Rudi sagt das so: Gerhards Geburtstag war am 24. Dezember, was auch der Geburtstag von Rudis Schwester ist. Jedes Jahr hat sich die Familie vor dem dekorierten Weihnachtbaum versammelt und hat traditionelle Weihnachtslieder gesungen. Rudis Vater versteckte sich hinter einer offenen Zeitung und hat möglicherweise gelesen und nicht teilgenommen. Sobald die Weihnachtsfeier zuende war, wurde von dem Geburtstag der Schwester gesprochen. Der Alte machte ein flasche Champagner auf und es wurde angestoßen. Obwohl das auch Gerhards Geburtstag war wurde er genausowenig erwähnt wie sont auch.
Bei der Beisetzung der Asche des Alten hielt einer der Schüler der Schule des Alten die Grabrede. Auch er erwähnte, dass der Alte seinen Bruder nie mit einem Wort erwähnt hatte.
Warum hatte es so lange gedauert?
Ein weiterer Zuhöhrer in München wollte wissen, warum es solange gedauert hat, das Schicksal Gerhards zu erforschen. Er war überrascht zu lernen, das es keine Zentralkartei gibt, die alle KZ-Häftlinge erfaßt. Das NS-Dokumentationszentrum ist bemüht immer mehr Fakten zu veröffentlichen.
In unserem Buch lassen wir bewußt die Frage offen, of der Alte eine Rolle im Schicksal Gerhards hatte. Wir wissen es nicht. Trotzdem wollen Menschen aber Antworten. Bei einer Veranstaltung wollte ein Zuhörer alle Details von Gerhards Entschlüssen und Zielen wissen. Julie hat ihm schließlich auf deutsch gesagt: „Das ist alles im Buch“. Ein kleiner Hinweis, das Buch zu kaufen. Das hat er aber dann doch nicht getan.
Am Ende aber in München und überall sonst auch war Gerhards Bild auf der großen Leinwand als dramatische Erinnerung an sein Leben.
Rudi Raab und Julie Freestone hatten eine sechs-wöchige Buchtour durch Deutschland geplant um an 15 Orten über ihren Roman Der Stolperstein zu sprechen.