Brauchen wir designierte Geschichtserzähler?
Buchtour: Bad Lippspringe 18. Mai 2018
Julie hat eine Frauengruppe, die sich mit Fragen des Altwerdens befaßt. Ein Thema kommt oft wieder: Was macht man mit alten Dokumenten und Erinnerungstücken eines Lebens, das zum größten Teil in der Vergangenheit liegt? Die meisten in der Gruppe sind sich einig, dass diese Dinge besser früher als später vernichtet werden sollten. Wenn man das versäumt, dann gibt man den Überlebenden Einblick in sehr private Lebensgeheimnisse oder Gedanken.
Stell dir vor, dass das Dokumente wären, die deinen Eltern oder Großeltern gehörten. Stell dir vor, sie beweisen, dass die Eltern oder Großeltern während der Nazi-Jahre keineswegs zum Wiederstand gehört hatten.
Weitere interessante Themen
Als wir in Bad Lippspringe waren, (die Lesung wurde von der Buchhandlung Waltenmode veranstaltet) kam dieses Thema wieder an die Oberfläche. Das war für uns eigentlich bemerkenswert, denn auf früheren Besuchen in Deutschland war das anders. Damals sagten die meisten, dass sie oder ihre Eltern entweder Bauern waren, oder gegen ihren Willen zur Wehrmacht eingezogen worden waren, oder dass sie eigentlich nichts gewußt hatten.
Ein Mann im Publikum hatte Dokumente über die Tätigkeit seiner Großeltern gefunden, er war übrigens ein früherer Mitschüler von Rudi. Wir sagten ihm, dass wir viele unserer Dokumente dem Holocaust Museum in Los Angeles gegeben hatten.
Für Julie war die Frage- und Antwort-Periode nach der Lesung immer frustrierend. Die formelle Periode konnte sie schon ganz gut meistern, denn sie hatte ihre Teile auf Deutsch auswendig gelernt. Das war so gut, dass Leute glaubten, sie späche tatsächlich fließend Deutsch. Dann haben sie ihr lange und komplizierte Fragen gestellt. Die Akustik in den einzelnen Sälen war oft schlecht und dazu sprachen die Leute auch fast immer im Lokaldialekt. Rudi hatte oft Schwierigkeiten gute Antworten zu finden. An das Übersetzen für Julie war da nicht zu denken, denn sonst wären wir immernoch in Deutschland.
Das wäre Julies Anwort
Im Commonwealth Club hier in San Francisco hat unsere amerikanische Lektorin und selbst auch erfolgreiche Schriftstellerin in ihrem letzten Buch Survivor Cafe folgendes geschrieben: Die nächste Generation erlebt auch das Trauma der Geschehen von Hiroschima und Nagasaki. In Japan jedoch besteht eine Tradition des designierten Geschichtserzählers. Er hält die Erlebnisse der Überlebenden wach, wenn die ältere Generation langsam ausstirbt. Für Deutsche wäre es wichtig, die alten schimmelnden Dokumente als Erinnerung zu erhalten.
Das bringt uns zu einem weiteren Thema, das in Bad Lippspringe von einer Frau aufgeworfen wurde. Sie wollte wissen, wie sich diese Reise von früheren unterschied. Sie bemerkte, dass die Deutschen heutzutage weniger bereit sind, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Für uns war die größte Überraschung, dass uns Leute spontan ihre Familiengeschichten berichteten; viele davon beschreiben Verwicklung, Teilname und auch bewußtes Schweigen. Ein Grund dafür ist sicherlich der, dass unser Publikum wegen des Themas eine gewisse Selbstauslese macht. Sie fühlen sich an die Geschichte von Rudis Familie herangezogen. Es ist die Geschichte einer Familie in der ein Bruder ein Rebell und gegen Hitler war und der andere, der zur selben Zeit seine Karriere als Nazi baute. Möglicherweise waren die Zuhörer von dieser Geschichte so fasziniert, wie andere die das Geschehen eines schweren Verkehrsunfall beobachten. Vielleicht war ihr Interesse auch, zu sehen, wie wir mit unserer Familiengeschichte fertig werden.
Rudi Raab und Julie Freestone waren in Deutschland auf einer Buchtour mit ihrem Roman Der Stolperstein in einem Auto, das viel zu klein für sie, ihr Gepäck und Bücherkisten war.